„(…) Arbeitgeberverband, Arbeitsverwaltung und ein Riesenaufgebot von Fernsehen, Funk und Presse hatten sich gestern morgen auf dem Bahnhof Köln Deutz bereitgestellt um den millionsten Gastarbeiter in der Bundesrepublik mit einem Ritual zu empfangen, das auch einen Weltgewandteren hätte erblassen lassen (…).“ Rheinische Post, 11.9.64. („,Millionär’ auf dem Moped“)

Der millionste Gastarbeiter und die Presse auf dem Bahnsteig, Köln-Deutz, 1964 Foto Helmut Koch

„(…)Die Beauftragten des BDA ( Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeber- Verbände) litten zwischen 8 und 10.10 Uhr unter quälender Ungewißheit. Den millionsten Gastarbeiter hatten sie durch Blindtippen herausgepickt. Der Zeigefinger des BDA - Suchers war beim Überfliegen der Vorauslisten auf dem Portugiesen Rodrigues hängen geblieben. Nun wurde gestern bekannt, daß 24 Portugiesen an der Grenze zurückgeschickt worden waren. Sollte erschreckte es die BDA Leute unser Favorit bei den Zurückgewiesenen sein? Und sie suchten für alle Fälle einen Ersatzmann – einen portugiesischen Zimmermann namens Varela. (…).“ Kölnische Rundschau, 11.9.64. („Musik für millionsten Gastarbeiter“)

„(…) Schließlich lief der erste Zug ein, begrüßt von schmetternden Weisen. Die Ankömmlinge stiegen auf dem gegenüber liegenden Bahnsteig aus. Zunächst standen sie stumm und abwartend in einem fremden Land unter einem verhangenen Himmel auf einem öden Bahnsteig. Da holte die Kapelle Luft, die spanische Nationalhymne erklang. Jubel und Applaus stiegen auf. Die Spanier lachten dankbar. Erst lange nach der Hymne erlosch der Beifall. Sie klammerten sich daran, ein akustisches Stück einer stolzen Heimat. Die Portugiesen reagierten nicht anders. Drüben auf dem anderen Bahnsteig tanzte die hübsche Juanita „Sevillanas“ (…) Dann, 10 Uhr, lief der zweite Zug ein. Ein Dolmetscher lief die Reihen entlang: Armando Rodrigues! Armando Rodrigues! Endlich weit draußen am Ende des Bahnsteiges meldete sich zögernd der „Millionär“. Armando, etwa 1,75 Meter groß, hager und verschlossen, wusste nicht, was ihm geschah. In blauer Arbeitshose und verschlissener Jacke stand er wenig später im gleißenden Scheinwerferlicht. Eine Hand lag scheu auf dem Moped, im Hintergrund die festlichen Lorbeerbäume. Es zischte und surrte in einem fort. Armando lächelte ein wenig, zog seinen Ausweis hervor. (…) Dann begannen die Ansprachen. Armando gewann an Sicherheit und lächelte jetzt mehr. Er ließ sich willig hin und her schieben. Er schob sein Moped ein paar Meter. Er setzte sich auch einmal drauf. (…) Rheinische Post, 11.9.64. („,Millionär’ auf dem Moped“)

Rodrigues vor Lorbeerbäumen und Szenen auf dem Bahnsteig, Köln-Deutz, 1964 - Fotos Helmut Koch

„(…) Aus tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen, starr geradeaus blickend, schreitet er aufrecht wie ein Zinnsoldat auf die ihn erwartende Gruppe zu. (…) Er lässt Reden über sich ergehen in Deutsch, Spanisch und Portugiesisch, bekommt von Dr. Dunkel die Hand geschüttelt und weiß schon nicht mehr, wohin nun noch mit der Urkunde – und wieder den Hut. Denn er ist höflich, kein reicher Mann, aber ein Vertreter iberischer Grandezza, der keinen Augenblick die Würde verliert – auch wenn um ihn Zirkusstimmung Wellen schlägt.“ Kölner Stadt-Anzeiger, 11.9.64 („Großer Bahnhof für Rodrigues“)

 „(…) Der Mann aus Portugal machte während des turbulenten Empfangs ein Gesicht, als reute es ihn angesichts der Menschenmassen, aus seinem Heimatdorf in die Fremde gereist zu sein. Steif, mit verlegener Miene, übernächtigt und unrasiert, stand er nach 48stündiger Fahrt in blauer Hose und in braunem Rock vor den Kameras – und drehte den Hut in der Hand. (…) Star-Portugiese Rodrigues bekannte nach der offiziellen Begrüßung: ‚Der herzliche Empfang und das Moped machen mir die Trennung von meiner Familie leichter.’“Kölnische Rundschau, 11.9.64. („Musik für millionsten Gastarbeiter“)

Rodrigues hilft sein Motorad schieben, über ihm das dreisprachige Begrüßungsbanner/ Rodrigues hält seinen Ausweis in die Kameras, Köln-Deutz, 1964 - Fotos Helmut Koch

„Senhor Rodrigues, seien Sie in der Bundesrepublik herzlich willkommen. (…) Daß man zu Ihrer Begrüßung auch ‚Auf in den Kampf, Torero’ gespielt hat, hat durchaus symbolischen Charakter. Jetzt geht es an die Arbeit. (…) Wir wären ganz froh, wenn wir in unserem Land nicht gezwungen wären, soviel Ausländer fern der Heimat beschäftigen zu müssen. Nun sind Sie aber da, wir brauchen Ihre Hilfe, und Sie sollen es so gut haben, wie es eben geht, so gut wie es ein Gast erwarten darf. Vergessen Sie nur nicht, Deutsche denken etwas anders als Portugiesen, und Portugiesen empfinden manches anders als die Deutschen. Das kann man nicht ändern. Tusch! In diesem Sinne: ‚Auf in den Kampf, Senhor Rodrigues!’“ Handelsblatt, 11.9.64. („Willkommen, Senhor!“)

Im September 1964 hatten die Zeitgenossen beste Chancen, von der Ankunft des millionsten Gastarbeiters zu erfahren – durch über 80 Zeitungsartikel, Wochenschauen, Radio und Fernsehen. Ein Heer von Fotografen verursachte ein regelrechtes „Blitzlichtgewitter“. Neun Jahre nach dem ersten Anwerbeabkommen mit Italien gab es immer noch 600.000 offene Stellen. Die Arbeitgeber waren froh, die Lücken langsam mit „Gastarbeitern“ schließen zu können, gerne auch längerfristig. So äußerte Bundesarbeitsminister Blank 1964 Interesse an einem längeren Aufenthalt der „Gastarbeiter“. Man diskutierte über „Einwanderung.“ Nicht nur in Deutschland wurde dem millionsten Gastarbeiter Aufmerksamkeit zuteil, auch in Portugal besuchte ein Vertreter des Konsulats die zurückgelassene Familie von Rodrigues in Vale de Madeiros und überreichte einen Blumenstrauß. Sicherlich ein Versuch, der zurückhaltenden Auswanderungspolitik der portugiesischen Regierung auf die Sprünge zu helfen, die durch rigide Kontrollen die Auswanderung der Bevölkerung steuern und teilweise unterbinden wollte.


Medienstar

Der einmal erkorene „Vorzeigegastarbeiter“ Rodrigues entwickelte sich zum journalistischen Selbstläufer. Noch heute stellt ein ehemaliger Arbeitskollege beim Interview in Vale de Madeiros, Portugal fest:
„Wir haben viele Jahre zusammen gearbeitet. Er war als Facharbeiter eingestellt und ich als Gehilfe. Ich kann mich gut an die Zeit erinnern. Es kamen oft Journalisten vorbei, um ihn zu interviewen und er hat manchmal sogar mehrere Tage dafür vom Arbeitgeber frei bekommen. Armando mochte gerne interviewt werden, es erfüllte ihn mit einem gewissen Stolz, aber irgendwie war es trotzdem komisch, denn es hätte jeden von uns treffen können. Warum sich die Medien nur für ihn interessierten, ist für mich nicht zu verstehen.“

Ein fotografisches Beispiel sind die Bilder von Rodrigues, aufgenommen von einem Journalisten bei einem Besuch in seinem Wohnheim. Im Gegensatz zu dem für den Migranten vollkommen unvorbereiteten Auftritt auf dem Deutzer Bahnhof konnte er sich nun selbst wenigsten teilweise in die Inszenierung einbringen und trägt Anzug und Krawatte. Auffällig das Menjou-Bärtchen, es ähnelt dem des portugiesischen Botschafters, der ihn am Bahnhof empfangen hat. Mit Anzug und Krawatte in der Umgebung seiner Arbeitskollegen, die eben wie Arbeiter aussehen, wirkt er wie ein Fremdkörper. Eine irritierende Home-Story im Gastarbeiterwohnheim. Ein Gentleman mit Bierflasche in kargem Ambiente. Ein Teller mit Löffel, aber nichts zu essen.

Pressefotos Rodrigues im Wohnheim, Foto Decker, Quelle: Witwe de Sá


Bereits zwei Jahre nach der feierlichen Begrüßung des millionsten Gastarbeiters kam 1966 der wirtschaftliche Abschwung und die Einstellung gegenüber den bisher willkommen geheißenen Gastarbeitern änderte sich rasch. In der Bundesregierung war man sich allerdings nicht einig: Während auf Bundesebene der Innenminister die Aufenthaltszeiten zu begrenzen und Familiennachzug zu beschränken versuchte, wollten Arbeits- und Wirtschaftsminister in den Diskussionen zwischen 1964 und 1966 Einwanderung hinnehmen, jedoch nicht mehr fördern.

Den „Gastarbeitern“ wehte mit der Rezession 1966/67 jetzt mehr und mehr der Wind ins Gesicht. Die Bildzeitung trieb im März 1966 einen Keil in die Arbeiterschaft mit der Frage. „Gastarbeiter fleißiger als deutsche Arbeiter?“ Deutsche Kollegen reagierten empört.

Inzwischen lebte Rodrigues das Leben eines Gastarbeiters, getrieben vom Heimweh pendelt er häufig zwischen Süddeutschland und Portugal hin und her.
Ein Bild aus seiner Zeit in Blaubeuren zeigt, wie sich die Arbeitsmigranten selbst fürs Fotoalbum verewigten. Vor dem gut lesbaren Betriebsnamen auf dem Silo haben sich sieben Freunde, vermutlich Arbeitskollegen, aufgereiht. Herausgeputzt im Sonntagsstaat stehen sie auf dem Gelände „ihrer“ Zementfabrik. Ein Erinnerungsbild aus dem Fotoalbum der Familie de Sá. Vergilbt und schon angefressen vom Schimmelpilz. Ein Unikat, an dem der Zahn der Zeit nagt, ist nicht vor dem Verschwinden geschützt wie der millionenfach reproduzierte Blick auf den Festakt im Bahnhof Deutz.

Nach einer Erholung der Konjunktur wurde das Interesse an der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer wieder größer, im Oktober 1969 gab es 280 000 offene Stellen.
Die Bundesanstalt für Arbeit versuchte den Medienrummel um Rodrigues zu wiederholen und begrüßte am 29. November auf dem Bahnhof in München den millionsten Gastarbeiter aus Südosteuropa, der Türkei und Tunesien. Der Türke Ismail Bahadir, ein 24 jähriger Dreher aus Konya, erhielt einen Fernseher als Geschenk. Der anwesende Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Stingl erklärte: „(…) die Wachstumsrate kann nur erreicht werden, wenn weitere ausländische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik kommen. Auch zur Bewältigung des Rentenberges tragen sie bei, denn die Deutschen müssten sonst noch höhere Beiträge zahlen.“ In der Presse fand diese zweite Inszenierung eines „Millionsten“ nur wenig Resonanz.


Die Geschichte „aller“ - erzählt durch das Bild des Einen

Schon vor seinem in Deutschland kaum beachteten Tod im Jahr 1979 war Rodrigues de Sá fast nur als Stereotyp wahrgenommen worden. Der Mann auf dem Moped mit Hut wurde zum Inbegriff des „Gastarbeiters“. Wenn das Thema zu bebildern war, griffen die Redakteure zum ewig gleichen dpa-Motiv. Dieses Bild verfestigte sich danach in Schulbüchern, Dokumentationen und Reportagen in Funk und Fernsehen – häufig im Zusammenhang der jeweiligen Jubiläen – vor denen Journalisten und Historiker die Familie des Verstorbenen kurzzeitig heimsuchten. Bis heute bleibt dabei der gesellschaftspolitische Zusammenhang meist außer Betracht. Die Inszenierung der Beschenkung durch die Arbeitgeberverbände wird in der Regel unkommentiert und ohne kritisch erläuternden Text übernommen. Das Bild des Beschenkten stellt die vielen Geschichten von hart arbeitenden Menschen, die fern von der Heimat ein oft isoliertes Leben führen mussten, in den Schatten. Gleiches gilt auch für die Erfolgstorys von Migranten die in Deutschland eine neue Existenz fanden, die ihnen aber nicht geschenkt wurde, sondern die sie durch eigene Initiative erreichen mussten.

Der millionste Gastarbeiter wurde auch von denjenigen immer wieder thematisiert, die sich für die Interessen der Migranten einsetzten. Ihnen diente Rodrigues als Beispiel für den „ausgebeuteten Gastarbeiter“, der nicht aufgeklärt über seine Rechte ein trauriges Schicksal erleidet und trotz seiner Vorzeigerolle letztlich scheitert.


Erinnerungsorte der Einwanderungsgesellschaft  

Köln Deutz ist nicht nur Erinnerungsort für die Begrüßung des millionsten „Gastarbeiters“, sondern auch Erinnerungsort für die Ankunft von über 500.000 spanischen und portugiesischen „Gastarbeitern“ in Deutschland. Ihre Geschichten sind eingeflossen in das gesellschaftliche Erinnern der Einwanderungsgesellschaft Deutschland. Dazu meinte der Bundespräsident a.D. Johannes Rau auf dem deutschen Historikertag 2002 in Halle an der Saale:
„Eine Gemeinschaft, auch eine Gesellschaft – und mag sie in sich noch so differenziert sein – konstituiert sich durch gemeinsame Erzählungen, durch eine Geschichte. An dieser Stelle wird deutlich, dass mit Integration etwas viel Schwierigeres gemeint sein könnte, als nur das Erlernen der deutschen Sprache und der Besitz eines deutschen Passes. (…) Was bedeutet Geschichte als Quelle für Identifikation und Identität in einer Gesellschaft, in der Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft und Kultur zusammenleben? (…) Wahrscheinlich werden sich die Hinzugekommenen auf ihre Weise die Geschichte zu Eigen machen, und gemeinsam werden wir einst eine neue, gemeinsame Geschichte erzählen. “

Ein öffentliches Bild des Armando Rodrigues aus der Bundesrepublik hat auch Einzug in das private Erinnern seiner Familie in Portugal erhalten. Es ist ein Portrait, Ausschnitt aus dem Pressebild im Wohnheim. Das Gesicht des Mannes im Anzug schaut von seinem Grabstein in Canas de Senhorim.

Arbeitskollegen in Blaubeuren (zweiter von rechts Rodrigues), Quelle: Witwe de Sá

 

Köln im August 2004

Von Jan Motte und Dietrich Hackenberg
Zeitungscollage Klaus Schmidt

 

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