„Wir warteten schon im Tunnel, wenn langsam der Zug im Gleis Köln-Deutz Tief einfuhr. Es war ein hässlicher Ort, es war dunkel, es war grau, nur ein einziges Neonband erleuchtete den Bahnsteig. Immer zog es, im Winter ein kalter Wind, im Sommer stickig heiß. Auf dem Bahnsteig standen schon Angehörige und Bekannte in gespannter Aufregung. Dazwischen die Leute vom Arbeitsamt und die Vertreter der Firmen, um wie jeden Donnerstag die Sortierung der Ankommenden vorzunehmen. Die stiegen aus den Zügen, bis zu tausend auf einmal, unrasiert, erschöpft, stinkend nach Mensch am Ende einer manchmal viertägigen Reise. Mit ihren altertümlichen Koffern aus Pappe, den Tonkrügen mit Wasser für unterwegs, zogen sie den Bahnsteig entlang. Ein eindrückliches Bild.” (Oscar Calero, spanischer Sozialbetreuer im Auftrag der Bahnhofsmission in Deutz von 1961 bis Anfang der 70er Jahre)

Gastarbeiter auf dem Bahnsteig, Köln-Deutz,1964 – Foto Wolfgang Haut

Ab Mai 1961 kam jede Woche ein Sonderzug mit spanischen Gastarbeitern am Gleis Köln- Deutz Tief an. Die ersten sechzig Portugiesen erreichten Köln im Juli 1964. Im Schnitt sind regelmäßig donnerstags ca. tausend Gastarbeiter aus der iberischen Halbinsel hier eingetroffen, darunter auch Frauen. Insgesamt wurde fast eine halbe Million Gastarbeiter aus der iberischen Halbinsel bis zum Anwerbestopp von Deutz aus an ihre Zielorte im ganzen Bundesgebiet verteilt. Gastarbeiter aus anderen Staaten, wie Italien oder der Türkei, kamen grundsätzlich im Münchener Hauptbahnhof an.

Bereits Anfang der 1950er zeichnete sich durch das deutsche Wirtschaftswunder der Bedarf an Arbeitskräften ab. Um die Wirtschaft anzukurbeln wurde 1955 das erste Anwerbeabkommen mit Italien abgeschlossen. 1960 folgten zwei weitere Abkommen mit Spanien und Griechenland. Erst nach Verträgen mit der Türkei und Marokko wurde 1964 auch ein Vertrag mit Portugal abgeschlossen.

Spanien und Portugal verstanden die Anwerbeabkommen mit verschiedenen europäischen Ländern als ein Mittel der Steuerung und Kontrolle der Migration. Migration sollte sich den Interessen der iberischen Diktaturen unterordnen. Es sollte vermieden werden, dass Facharbeiter und Regimegegner das Land verlassen. Facharbeiter sollten die eigene Wirtschaft ankurbeln, obwohl in den Ländern Niedriglöhne, zum Teil Armut und Arbeitslosigkeit herrschten. Regimegegner hätten sich im Ausland organisieren und den Ruf des Landes ruinieren können. Der einzige Weg für die vom Anwerbeverfahren ausgeschlossenen Bewerber, das Land zu verlassen, war die illegale Migration.  

Stationen der Gastarbeiterzüge aus Spanien und Portugal, Grafik Hackenberg / Fahrkarte Madrid-Köln über Hendaye, aus dem Besitz von Lucinda Sanchidrian.

Anwerbeverfahren

Um sich „für die Migration“ zu melden, sollten sich die Kandidaten in Spanien an die Lokaldelegation der francistischen Gewerkschaft wenden oder an Provinzdelegationen des Instituto Español de Emigración. In Portugal waren die lokalen Rathäuser dafür zuständig, die Verfahren an die Junta da Emigração weiterzuleiten.

„Meine Kusine war bereits in Deutschland beschäftigt und hat für mich und meinen Mann einen Arbeitsvertrag besorgt. Mein Mann war zuvor schon zweimal nach Frankreich zum Arbeiten gegangen, jedes mal auf illegalem Wege und das letzte Mal sogar ohne Pass.” (Zeitzeugin dos Santos, Portugiesin)

„Die Deutsche Kommission (in Madrid) kann nach der Deutsch-Spanischen Arbeitsvermittlungsvereinbarung nur solche spanischen Arbeitnehmer vermitteln, die ihr von der spanischen Seite mitgeteilt worden sind. Das Spanische Auswanderungsinstitut wird der Deutschen Kommission nicht die Namen solcher Bewerber mitteilen, deren Vermittlung ihm aus politischen Gründen oder auch wegen ihrer besonderen beruflichen Fähigkeiten unerwünscht ist. Die Sorge der Spanischen Regierung ihre Facharbeitskraft nicht gehen zu lassen ist verständlich, (...)“ (Auswärtiges Amt an die Deutsche Botschaft in Madrid, 1962)

Alle Menschen, die migrieren wollten und sich für einen Arbeitsplatz in Deutschland bewarben, mussten sich zuerst einer medizinischen Untersuchung durch die lokalen Gesundheitsbehörden unterziehen. Diejenigen, die den Gesundheitstest bestanden hatten, kamen auf eine Warteliste. Wenn das Arbeitsministerium aus wirtschaftspolitischen Gründen festgelegt hatte, in welcher Provinz die Anwerbung stattfinden sollte, dann wurden die Kandidaten aus dieser Provinz zu einer zweiten Untersuchung seitens der deutschen Ärzte eingeladen. In Portugal mussten sie dafür nach Lissabon zur Deutschen Verbindungsstelle. In Spanien kamen die sog. „fliegenden Teams“ der Deutschen Kommission in jede Provinzhauptstadt, die ständig durch das Land reisten.

„Vor der Untersuchung in Lissabon musste ich meine Zähne machen lassen, weil meine Kusine mir sagte, dass sie sehr streng sein würden. Wer schlechte Zähne hatte, durfte nicht nach Deutschland. (...) Nachdem wir die Blut- und Urinuntersuchung bei einem portugiesischen Arzt in der nächsten Stadt gemacht hatten, sind wir eine Woche vor der Abfahrt nach Lissabon gegangen. Die Leibesvisitation bei der Deutschen Verbindungsstelle in Lissabon war wie beim Militär. Sie haben wirklich alles untersucht, die Zähne und sogar die Beine!” (Zeitzeugin dos Santos, Portugiesin)

„Gastarbeiterin“ mit Koffer auf dem Bahnsteig Köln-Deutz,1964 - Foto Wolfgang Haut

„Mitglied zu sein der deutschen Kommission

gehört einfach zum guten Ton
Und heute nun, statt anzuheuern
Da wollen wir Betriebsfest feiern (...)

Und nun zu unseren Herrn Doktoren
Sie prüfen Augen, Herzen, Ohren
Und wehe, wenn der kleine Zeh
der Bauch, die Zähne nicht OK (...)

Doch dies geschieht zu spät
Dass alles aus den Fugen geht
Die Migranten sind am Weinen
Wenn sie erneut im Dorf erscheinen

Doch ist es auch schon vorgekommen
Dass der Entschluss zu spät gekommen
Während man ihn „no apto“ schrieb
In Deutschland er herum sich trieb.“

(Gedicht von Wilhelmine Brück †, Mitarbeiterin der Deutschen Kommission in Madrid 1960-1973)

Die Wartezeiten zwischen der ersten medizinischen Untersuchung und der endgültigen variierten von wenigen Wochen bis zu vielen Monaten. Zusätzlich nahm die Ausstellung von Pässen und anderen Dokumenten viel Zeit in Anspruch. Das Anwerbeverfahren in Spanien und Portugal war insgesamt sehr zeitaufwändig. Dies führte zu verschiedenen Problemen und zu Beschwerden seitens der Arbeitgeber.  

„In meinem Erlass vom 23.2.62 hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass zwischen der zweiten ärztlichen Auswahl durch den deutschen Arzt und der Ausreise, 5 bis höchstens 6 Wochen liegen dürfen, dass heißt diese Zeitspanne soll so kurz wie möglich gehalten werden. Gerade bei weiblichen Arbeitnehmerinnen ist dies von besonderer Bedeutung, wie die (...) Fälle der Schwangerschaft [von frisch angekommenen spanischen Gastarbeiterinnen] beweisen. Bei zwei der benannten Fälle liegt der Beginn der Schwangerschaft eindeutig, und zwar erheblich nach dem Termin der Auswahluntersuchung“. (Präsident der Bundesanstalt für Arbeit an die Deutsche Kommission in Spanien, 1962)  

“Als ich einen Reisepass beantragen wollte, um den Vertrag unterschreiben zu können, wurde ich zwei Stunden von der PIDE (Geheimpolizei) befragt, warum ich denn auswandern wolle? Ich wusste, dass es nur eine Antwort gab, mit der man sich nicht verdächtig machte. Ich sagte, dass ich als Soldat in den Kolonien gewesen sei und Lust ätte, die Welt zu sehen! Zu sagen, dass man in Portugal nicht genug verdiene, wurde schon als Kritik an der Regierung angesehen.” (Zeitzeuge Alves, Portugiese)

Ankunft des Gastarbeiterzuges, Köln-Deutz, September 1964 – Foto Helmut Koch

Die Reise

Ausgerüstet mit den Verträgen und mit kaum Informationen über ihre Zukunft, sind die neuen Arbeitskräfte für Deutschland aus allen Regionen der iberischen Halbinsel in den Hauptstädten am Dienstagmorgen eingetroffen. Die Sonderzüge fuhren vom Bahnhof Santa Apolonia in Lissabon morgens und am späten Abend aus Estación del Norte in Madrid ab. Reisebüros waren für die Begleitung und Verpflegung während der Reise zuständig. Beide Züge, sowie einige Spanier aus den nördlichen Provinzen, trafen am Mittwoch früh in der spanischen Grenzstadt Irún ein. In den ersten Jahren wurden die spanischen Migranten bei Ankunft in Irún mit einem Mittagessen versorgt, überquerten die Grenze bis Hendaye und fuhren am Nachmittag weiter. Wegen unterschiedlicher Gleisbreiten in Spanien und Frankreich war ein Zugwechsel notwendig. Mitte der 60er fuhren die Sonderzüge direkt in Hendaye ein. Ein französischer Sonderzug fuhr über Paris und kam gegen Mittag in Köln- Deutz an.
Trotz der über die Jahre gesammelten Erfahrung bei der Abwicklung der Reise blieb sie immer problematisch. Zum Beispiel wurden im Winter die Sonderzüge nicht geheizt, was in einigen Fällen zur Erkrankung der Passagiere führte und zu Beschwerden der Arbeitgeber beim Arbeitsamt. Auch gab es immer wieder Verspätungen oder Anschlusszüge wurden regelmäßig verpasst.  

Armbinde und Ausweis der Bahnhofsmission von Oscar Calero, Foto Hackenberg / Dolmetscher mit Megafon auf dem Bahnsteig Köln-Deutz,1962 - Foto Spielmans / Tonkrug aus einem Gastarbeiterzug im Besitz der Caritas, Foto Hackenberg

„Als mein Vater in den Zug in dem Ort Canas de Senhorim trat, war das der schlimmste Tag meines Lebens. Ich erinnere mich noch genau, wie unendlich traurig wir alle waren und wie schwer es war, von ihm Abschied zu nehmen.” (Rosa Pais de Sá Tochter des Armando Rodrigues de Sá, Portugiesin).

 „Bei den Abschiedsszenen am Bahnhof Madrid Nord 1960 lag eine Spannung in der Luft. Die Leute machten die Regierung dafür verantwortlich, dass Spanier gezwungen sind, im Ausland arbeiten zu gehen. Laute Worte wurden gegen Franco geäussert, und niemand brauchte sich zu beherrschen, weil sich die Polizei nicht traute, dabei zu sein. Auf der Reise nach Irún habe ich mit einem Freund viel getrunken. Beim Mittagessen im Grenzbahnhof gab es ein fürchterliches Essen. Und dann hielt noch einer vom Auswanderungsinstitut eine Rede: ‚Vergessen Sie nicht, dass sie ab heute Spanien im Ausland vertreten. Sie müssen gute Botschafter für unser Land sein...benehmen Sie sich!’ Laut habe ich gerufen: ‚Hijo de Puta, Hurensohn.’” (Zeitzeuge Aceña, Spanier)  

„Als alle Züge aus Spanien in Irún eintrafen, habe ich zum ersten Mal die Armut Spaniens verstanden. Ich dachte, ich wäre eine der Ärmsten. Aber ich hatte zumindest einen neuen Koffer, einige neue Sachen... Und da in Irún sehe ich Frauen und Männer die nur einfache Kisten hatten, oder sogar Tüten. In Irún führten sie uns in einen riesigen Saal, wo wir gespeist haben. Der Eintopf war sehr hart, und meine Gabel aus Aluminium zerbrach genau in dem Moment, als es aus dem Lautsprecher tönte: ‚Bitte das Besteck nicht mitnehmen!’ Im Zug gab es alles, aber überwiegend Traurigkeit. Man tröstete einander. Über die Gründe der Migration wurde nicht gesprochen. Niemand wollte sagen, dass er aus Not nach Deutschland kam.“ (Zeitzeugin Mittländer, Spanierin)  

„Nun gut, ich war jung. Wir waren vor wenigen Monaten aus dem portugiesischen Kolonialkrieg zurückgekehrt, ich zusammen mit meinen Freunden. Kurze Zeit nach unserer Ankunft haben wir beschlossen, uns gemeinsam bei der deutschen Verbindungsstelle zu bewerben. Ich suchte das Abenteuer und ein besseres Leben. In Portugal gab es keine Zukunft. Die ganze Fahrt haben wir gefeiert. Wir haben uns auf das, was kommen würde, gefreut.” (Palhinhas, Portugiese)  

„Die Zugfahrt nach Deutschland war hart, wir saßen auf Holzbänken, es war kalt und die Heizung kaputt.” (Zeitzeuge Cravo, Portugiese)

 „Das Essen in Irún war genau so wie in Madrid, ich glaube der Koch ist auch mit unserem Zug gefahren und hat wieder dasselbe für uns gekocht. Danach haben wir zu Fuß die Grenze überquert. Die französischen Züge waren super! Die Toiletten waren sauber und hatten Spiegel! Wir konnten uns rasieren!” (Zeitzeuge Muñoz, Spanier)

Arbeitsvertrag, Araújo / Aufrufen der Gastarbeiter durch die Firmen nach Vertragsnummer, Köln-Deutz - Quelle Bericht der "Sozialabteilung der spanischen Botschaft in Bonn"

Die Ankunft

Im Bahnhof Köln-Deutz erwarteten die Vertreter verschiedener Firmen die Gastarbeiter. Die aussteigenden Migranten wurden zu Gruppen zusammengestellt, indem man per Megafon die Nummer des Arbeitsvertrages aufrief. Diejenigen, die sofort weiterfuhren, erhielten Verpflegungspakete, die anderen wurden im Bahnhofsrestaurant bzw. der gegenüberliegenden Jugendherberge mit einer warmen Mahlzeit versorgt. Firmen aus der Region, die ein großes Kontingent Arbeiter erwarteten, kamen mit Bussen, kleinere Betriebe holten die Leute oft mit dem Pkw ab.

„Bei der Ankunft bekamen wir erst einmal einen Café zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen. Wir wurden aufgerufen und sortiert. Es gab welche, die mit dem Zug weiterfahren mussten. Ich und ein paar andere wurden mit einem Firmenbus abgeholt, der uns zu unserem Arbeitsplatz brachte. Das war sehr aufregend, die neue Umgebung, die Schilder mit den unbekannten Städtenamen… und wir waren sehr müde.” (Zeitzeuge Custoias, Portugiese)  

„Mit der Zeit wurde die Verteilung der Gastarbeiter Routine, es ging nur noch darum, alles ordentlich abzuwickeln. Um den Umsteigevorgang zu beschleunigen, schlich sich ein fast militärischer Umgangston ein und die Zugbegleiter versuchten, die Aussteigenden per Megafon auf Trab zu bringen. Das wurde von vielen Leuten bemängelt.
Manchmal wurden Ehepaare an verschiedene Orte vermittelt. Die kamen an in der Hoffnung, es sollte in der Nähe sein und dann stellte sich zum Entsetzen von beiden heraus, dass 500 km zwischen ihren Arbeitsstätten lagen!” (Oscar Calero, spanischer Sozialbetreuer)

„In Köln war alles super organisiert. Wir wurden am Bahnsteig aufgerufen und dann gab es im Bahnhofsrestaurant was Warmes, Huhn und Reis gemischt.” (Zeitzeuge Alves, Portugiese)

Spanische Gastarbeiter im Bahnhof, Köln-Deutz 60er Jahre - Foto A.M.

„In Köln habe ich eine Gulasch-Suppe bekommen. Danach war ich allein im Zug bis Bonn, wo ich abgeholt werden sollte. Aber in Bonn Hbf war niemand, und mit der Frau der Bahnhofsmission konnte ich mich nicht verständigen. Da bin ich am Gleis spazieren gegangen. Ich hatte gehört, Bonn ist die Hauptstadt von Deutschland, aber wenn ich mich umschaute, wie konnte das sein? Dieser Hauptbahnhof war so klein! Es war schon dunkel und sehr kalt! Ich wollte sofort nach Haus, in den nächsten Zug einsteigen, aber im Fahrplan gab es keine Züge nach Spanien, auch nicht nach Paris. Was für eine komische Hauptstadt war dieses Bonn!” (Zeitzeugin Sanchidrian, Spanierin)



Köln im August 2004

von Alexandra Ventura Corceiro und Antonio Muñoz Sánchez im Auftrag von DOMiT

 

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